WAZ

4. Oktober 2005

Menschen auf der Flucht

Jürgen Flimms Ruhr-Triennale verlangt viel. Die neue Oper "Shadowtime" bleibt trotz exzellenter Interpretation ein Angebot für Eingeweihte. Sanda Weigls Weltreise

Bochum/Duisburg. Wer die Ruhr-Triennale Jürgen Flimms besucht, muss was vorweisen können. Um eine Oper wie Brian Ferneyhoughs "Shadowtime" gerecht zu würdigen, sind Fremdsprachenkenntnisse, Geschichtswissen und Erfahrungen mit der musikalischen Avantgarde gefragt. Und in der Weltreise "Gypsy in a tree" gilt es ebenfalls, Sprachbarrieren zu meistern.

Flimm verlangt viel. Bei "Shadowtime" flüchteten Besucher aus Bochums Jahrhunderthalle. Dass dieses siebenteilige, pausenlose Werk als Koproduktion mit der Münchner Biennale, Saddler's Wells in London, dem Festival d'Automne Paris und dem Lincoln Center Festival in New York imposante Paten hat, spricht für die Bedeutung von Ferneyhough. In der Tat gehört der 1943 in Coventry geborene Komponist zu den kompromisslosen Wegweisern der Moderne - immer wieder an der Grenze der Spielbarkeit, was die Anforderungen seiner komplexen Strukturen betrifft, immer wieder kopflastig.

Im Zentrum steht der Kulturphilosoph Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis in den Pyrenäen das Leben nahm, weil er fürchtete, an die Gestapo ausgeliefert zu werden. Das Libretto des Literaturtheoretikers Charles Bernstein zeichnet eine Art Stationendrama, das eben nur Visionen liefert und keine Lebensgeschichte schreibt. Die Bilder sind im Grunde eigenständig. Figuren wie Papst Pius XII. und Adolf Hitler werden als Zeitzeugen bemüht. Das läuft vielschichtig, ist als riesiges Chorstück der frühen Madrigaloper oder der alten Rappresentazione nahe und in den musikalischen Abläufen oft so verwirrend, dass man nicht mehr folgen kann - oder mag. Das gesungene Wort versteht man eigentlich so gut wie nie.

 

Man fühlte sich an Hansjörg Paulis berühmte Frage erinnert: Für wen komponieren Sie eigentlich? Ferneyhough, der dieses alles über Jahre hinweg mit staunenswerter Kunstfertigkeit detailversessen zusammenfügte und die Erfahrungen filigranster Kammermusik auch in sein erstes Bühnenwerk einfließen lässt, schreibt für Eingeweihte. Die Inszenierung Fre´de´ric Fisbachs in der betont schlichten Ausstattung von Emmanuel Clolus (Figuren der Geschichte begegnen uns als Pappkameraden) schweißt die Bilder dieser Endsituation nicht wirklich stimmig zusammen.

Musikalisch ist das glänzend realisiert. Jurjen Hempel vollbringt als Dirigent Wunder an Präzision. Der Pianist Nicolas Hodges bewältigt nicht nur seine irrwitzig schwierige Solo-Szene locker, er ist auch ein Sprecher mit ironischem Biss. Ekkehard Abeles Benjamin bleibt eine Schattengestalt. Das Nieuw Ensemble Amsterdam und die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die in ihrer Perfektion die Grenzen des Möglichen sprengen, machen uns vor Staunen stumm. Das letzte Bild wird zum Requiem mit Elektronik. Da berührt uns diese Musik plötzlich unmittelbar.

Unmittelbar nahe kommt uns eine andere Flucht: Sanda Weigl, mit der Brecht-Gattin Helene Weigel verwandt und mit dem Dramatiker Klaus Pohl verheiratet, ging im Duisburger Landschaftspark auf eine Weltreise, die aus dem Schatten der Nazi-Zeit heraus erwuchs. Ihr Vater flüchtete nach Rumänien. Die musizierenden Zigeuner saßen einst bei Festen in den Bäumen versteckt, um nicht durch ihren Anblick zu stören. Daher der Tiel "Gypsy in a tree".

Die Musik streift den sanften Rock, kokettiert mit Agitprop der DDR und verknüpft Jazz mit Zigeunermusik. Sanda Weigl und ihre fabelhafte Band - mit dem Pianisten Anthony Coleman an der Spitze und dem japanischen Schlagzeuger Satoshi Takeishi als Meister minimalistisch erzeugter Effekte - führen uns in der Gebläsehalle durch ein anderes "Stationendrama". Von Rumänien über die DDR in die Bundesrepublik und nach Amerika. Die Stimme der Weigl erinnert in Momenten an die Dietrich. Diseuse, Chansonette, Sängerin, Schauspielerin - diese Künstlerin, die immer wieder so verschattet, auch melancholisch wirkt, lässt sich nicht festlegen. Da geht es nicht um Postkartenfolklore, da geht um ganz persönliche Befindlichkeiten.

Jürgen Flimms Triennale verlangt viel. Aber ist das nicht auch ein Angebot in einer Zeit der medialen Verblödung? Die einfachen Lösungen sind nicht immer die besten.

Wer die Musik zur Triennale macht

Zwei Produktionen, nur kurz gespielt, zwei Persönlichkeiten: Sanda Weigl trat schon als Kind in ihrer rumänischen Heimat auf, wechselte mit der Familie wegen der politischen Verhältnisse nach Ost-Berlin, verteilte dort Flugblätter, wurde ausgebürgert. In der Bundesrepublik arbeitete sie mit Regisseuren wie Flimm, Bondy oder Wilson , der ihr New York empfahl. Der englische Komponist Brian Ferneyhough, der in Freiburg unterrichtete und bei den Darmstädter Ferienkursen wichtige Impulse gab, unterrichtete im kalifornischen San Diego und lehrt heute an der Stanford University.